Im letzten Jahr habe ich so viele Bücher gelesen wie nie zuvor. Wieso? Weiterhin keine Streaming-Abos, noch weniger TV und eine strenge Social-Media-Diät. Naja, und irgendwie auch eine (hüstel) altersbedingte Reife und damit einhergehendes besseres Gefühl für den im Vergleich dazu höheren Wert von Literatur. Da man Leidenschaften und Erkenntnisse gern teilt, stelle ich diejenigen Bücher vor, die mich 2023 auf die eine oder andere Art berührt haben.
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- Dirk Oschmann „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ — Seltsam, dass es nach der friedlichen Revolution noch über 30 Jahre brauchte, bis sich die ostdeutsche Wut in einer solch an- un erregenden Form Bahn bricht. Die Fakten sind hinlänglich bekannt. So ist beispielsweise nur 1 von 33 Staatssekretärinnen und -sekretären ostdeutsch und nur 60 Prozent der Ministerposten zwischen Rügen und Thüringer Wald sind von Ostdeutschen besetzt ist (und damit sogar stark rückläufig). Bundesweit liegt ihr Anteil bei den Spitzenpositionen von Politik, Wirtschaft, Justiz oder Universitäten laut einer Studie der Uni Leipzig bei jämmerlichen 3,5 Prozent. Im Osten selbst sind es 26 Prozent. Damit hat diese Ungerechtigkeit bereits bald ähnlich lange Bestand wie die DDR selbst. Die von Prof. Dr. Dirk Oschmann in das Thema gebrachte Schärfe ist also überfällig, da Fakten allein bewiesenermaßen nichts ändern. Das Buch – mein Highlight des Jahres – will aber vor allem einen Beitrag zum Erhalt der Demokratie leisten, die augenscheinlich unter Beschuss steht. Wem daran gelegen ist, sollte dieses Buch gelesen haben.
- Ingo Schulze „Die rechtschaffenen Mörder“ — Binge-Lesen – das geschieht mir nicht oft. Aber diese 320 Seiten hatte ich am Ende eines Wochenendes verschlungen. Ein Wendeverlierer, der sich gegen jenes Schicksal der Niederlage stemmt, dabei den Blinker rechts setzt und am Ende tot ist. Erzählt wird aus drei Perspektiven, nach der letzten Seite bleiben Fragen, die nachhallen. Ganz stark!
- Hermann Hesse „Siddharta“ – Nach vielen Jahren erneut gelesen, hat es nichts von seinem legendären Zauber verloren. Unter der modernen Flut von Ratgebern für ein glückliches und erfülltes Leben ist Hesses Roman vielleicht der einzige, den man wirklich lesen braucht.
- Wolfgang Engler, Jana Hensel „Wer wir sind – Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein“ — Spätestens hier lässt sich mein momentanes Interessen-Muster erkennen und in der Tat, das Oschmannsche Thema beschäftigt mich seit einer ganzen Weile. Auch dieses Buch belehrt nicht, sondern legt in Form einer Diskussion zwischen beiden Autoren die unterschiedlichen Erfahrungen dar und zeigt, wie individuell unterschiedlich die Identitäten jenseits des Elms und Bayrischen Waldes sind.
- Alexander Puschkin „Die Hauptmannstochter“ – Der russische Nationaldichter erzählt in diesem historischen Roman eine abenteuerliche Geschichte, die trotz ihres Alters zu keiner Zeit langweilig wird. Wie auch in anderen Erzählungen Puschkins kann man sich zudem wunderbar mit der an sich faszinierenden russischen Seele auseinandersetzen, unabhängig von aktuellen weltpolitischen Umständen.
- Alexander Osang „Fast hell“ – Der viel bemühte Ausdruck pures Lesevergnügen, trifft es ganz gut, wie Osang sich hier am verrückten Schicksal und der Geschichte eines Berliners in New York, im Kontext der jüngeren deutschen Geschichte abarbeitet.
- Ernest Hemingway „Der alte Mann und das Meer“ — Einer meiner derzeitigen Vorsätze ist die Beschäftigung mit Klassikern. Als Einstieg bietet die bekannte Novelle von Hemingway die ideale Länge, lässt sie sich doch in wenigen Stunden lesen (mir genügte ein längerer Saunabesuch). Sie bietet eine Vielzahl an Interpretationsmöglichkeiten und hat auch nach über 70 Jahren ihren Reiz nicht verloren.
Flop
- Moritz von Uslar „Deutschboden“ – Ich habe mich lange über dieses Buch geärgert. Es ist das Buch eines Westdeutschen, welches Interesse am Osten simuliert, in Wahrheit aber auf der Suche nach Bestätigung eigener Vorurteile ist. Ein mehrmonatiges Leben unter Einheimischen im brandenburgischen Dschungel, Interesse heuchelnd und auf Distanz bedacht, wann immer nur der kleinste Anflug von (zu Recht zu verabscheuenden) rechtem Gedankengut aufzukommen scheint. An mehreren Stellen entlarven sich Autor und Verlag selbst, wenn sie beispielsweise Orts- oder Vereinsnamen falsch schreiben. Ehrliches Interesse an den Wilden da drüben sieht anders aus.
- Seneca „Von der Seelenruhe/Vom glücklichen Leben“ – Mehrmals im – ebenfalls zu Unrecht gehypten – Buch „Tribe of Mentors“ von Tim Ferris empfohlen, hatte ich große Erwartungen. Die wurden jedoch in keinster Weise erfüllt. Vielleicht muss man amerikanisch sozialisiert worden sein, um dieses Buch dem mittlerweile zigfach moderner und mitreißender zur Verfügung stehenden philosophischen Schriften zum Lebensglück vorziehen zu wollen.
- Ernest Hemingway „Sturmfluten des Frühlings“ – Im Nachhinein habe ich gelesen, dass Hemingway dieses Buch geschrieben hat, um aus seinem Vertrag mit seinem Verlag herauszukommen. Das sagt schon alles. Schade ums Papier.
Einige weitere Bücher haben mich weder richtig überzeugt, noch würde ich sie als Zeitverschwendung abtun. Darunter Ivo Andrić „Das Fräulein“, André Gide „Sämtliche Erzählungen“, Stanisław Lem „Sterntagebücher“, Stephan Hermlin „Der Leutnant Yorck von Wartenburg“ und Hermann Hesse „Peter Camenzind“, „Unterm Rad“, „Gertrud“, „Knulp“ und „Klingsors letzter Sommer“, wobei seine Bücher ohne Zweifel wunderbar geschrieben sind, aber am Ende ist mir das meist zu aussichts- oder hoffnungslos. Das kann man einmal lesen (vielleicht am ehesten „Unterm Rad“ oder „Knulp“), aber sich Hesses Gesamtwerk zu genehmigen, muss eigentlich nicht sein.